»Als wir uns vergaßen…«(UA)

Eine szenische Lesung als aktive Erinnerungspraxis zu den rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren

21. August 2022 / 14 Uhr / Doberaner Platz / Dauer: Eine Stunde

»Kein Wunder, dass es gebrannt hat, wenn alle, die sich in den Weg hätten stellen können, sich lieber aus dem Staub gemacht haben.«

Zwei Menschen (oder mehr) erinnern sich. Wie war das noch mal genau vor dreißig Jahren? Nach der Einheit? Nachdem die Geschichte geschrieben war? Nachdem eigentlich alles gut war? Warum zum Teufel hat es noch mal gebrannt?! Alle hatten doch gekriegt, was sie wollten? Oder etwa nicht?

1992 – Rostock, Lichtenhagen: Vor der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) in der Mecklenburger Allee warteten über Wochen hinweg mehrere hundert Geflüchtete aus Rumänien auf ihre Registrierung. Die Kapazitäten des Instituts waren jedoch begrenzt ebenso wie die Geduld der Nachbar:innen. Nachdem sie lange tatenlos zuschauten, wie die Menschen vor dem Haus sie mit ihrem Elend behelligten, bahnte sich schließlich die angestaute Wut über die Zustände ihren Weg und am 24. August zündete ein wütender Mob das sogenannte Sonnenblumenhaus an während viele Menschen klatschten. Das Urteil der Nation war anschließend schnell gefällt: Rostock und die Nazis, der Osten und die Nazis, das gehört untrennbar zusammen. Was aber ist wirklich passiert? Wer hat das Haus angezündet? Warum wurde das Haus angezündet? Wo war die Polizei? Wo war die Zivilgesellschaft? Wo waren Sie?

»Als wir uns vergaßen« fragt nach einer Erinnerung, die niemand haben möchte und die doch im Kollektiv-Gedächtnis sehr aktiv ist. Wer erinnert sich an was? Wer erinnert sich wie und warum? Und warum nicht? Die Wunde ist offen, auch dreißig Jahre danach. Aus der Perspektive zweier vermeintlich unbeteiligter Zeitzeug:innen fächert sich ein Panorama an Erinnerungen, Meinungen und Urteilen auf in einer Zeit, in der – wie heute – die (Welt-)Ereignisse die Menschen überholen. Wie aus einem trüben Nebel der Unwägbarkeiten schälen sich Vorurteile, rassistische Sprache und alte Muster, die mahnen, dass auch heute noch unser Denken unser Handeln bestimmt. Wie denkt man über wen? Wie redet man über wen? Welches Urteil fällt man über was und warum? Und was ist die Konsequenz daraus?

Text: Juliane Hendes / Regie: Anne Decker / Mit: Katja Körber und Christian Simon

Unterstützt durch das Kulturamt Rostock, die Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und das Servicecenterkultur Rostock

HINTERGRUND

Vor 30 Jahren wurde ein Hochhaus in Rostock- Lichtenhagen unter Beifall und ohne Einschreiten der Polizei angezündet. »Das Sonnenblumenhaus« hat 1992 traurige Geschichte geschrieben. Über vier Tage lang kam es zu Ausschreitungen rund um das ZAst (Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge) und das anliegende Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen. Die Stimmung hatte sich in den Jahren kurz nach der
Wende aufgeheizt und entlud sich in einem bis dahin einzigartigen Akt der Gewalt. Die Menschen vor dem Haus – aktiv oder passiv – nahmen in Kauf, dass im Haus circa 150 Menschen um ihr Leben fürchten mussten. Die Bilder gingen um die Welt und Rostock wurde in der Kollektiverinnerung zu einem Ort beherrscht von Nazis und Gewalt. Die Ausschreitungen haben neben jenen in Hoyerswerda und Mölln die Diagnose des Ostens als rechtsradikal-rückständig befeuert. Bis heute.

Um die Geschehnisse von damals zu verstehen, müssen die Einwanderungspolitik der DDR, die fehlende Erfahrung mit Asylbewerber*innen, das Versagen von Politik und Polizei sowie mediale Hetze zusammen betrachtet werden. Um die Geschehnisse zu verstehen, müssen insbesondere die veränderten Lebensbedingungen nach der Wende mitgedacht werden: Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit, Anpassungsschock und die Verpflichtung, die (nun falschen) Werte und Gewissheiten der DDR hinter sich zu lassen und neue, völlig fremde zu erlernen und zu akzeptieren. Und trotzdem gibt es nichts zu verstehen, wenn sich ungebremster Fremdenhass gegen Menschen richtet. Daran wollen die Jahrestage immer wieder erinnern. Doch wie wollen wir heute, 30 Jahre nach den Ereignissen darauf Bezug nehmen? Wie können wir die Erinnerung an diese schrecklichen Taten wachhalten, um sie in Zukunft zu verhindern, ohne aber den Stadtteil Lichtenhagen immer wieder und einzig und allein auf diese Vergangenheit zu reduzieren, so wie es zum Unmut der Lichtenhäger*innen in der vergangenen medialen Berichterstattung meist passiert ist?

Zusammen mit der Regisseurin Anne Decker erarbeitet Juliane Hendes einen Beitrag zur Erinnerungskultur Rostocks und des Ostens der 90er Jahre. Eine Erinnerungskultur, die politisch bildet, indem sie erstens die Erinnerung an die Ereignisse von damals in einem fiktiven Dialog kontrovers verhandelt und mit der Tatsache umgeht, dass Fremdenfeindlichkeit keineswegs ein Thema der Vergangenheit ist. Zweitens findet die Lesung des Dialogs an mehreren Orten im Stadtgebiet Rostocks statt und weist somit über Lichtenhagen hinaus, denn die Erinnerungspraxis als Diskriminierungskritik geht alle etwas an. Drittens wird durch die Interventionen im öffentlichen Raum ein Rahmen geschaffen, in dem Demokratie und Toleranz praktiziert wird durch Perspektivwechsel und dem konstruktiven Austragen von Konflikten sowohl innerhalb des Dialogs als auch in anschließenden Gesprächen mit Teilnehmenden.